Interpretation des Mosaiks
(Nachfolgend zitiert aus Traute Petersen: Das Alexandermosaik von Pompeji. In: Eberhardt Schwalm (Hrsg.): Folienbuch Geschichte 1. Bilder für den Unterricht. Von den frühen Hochkulturen bis zum 16. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Perthes 1993. S. 24f.)
Betrachtet man die Voraussetzungen und die Ausgangslage, von denen aus Alexander seinen Angriff auf das ihm weit überlegene
Perserreich führte, so stellt sich immer wieder die Frage nach den Gründen für Alexanders Siege über das gewaltige
Perserheer. Diese Siege kamen für das selbstbewußte Persien so unerwartet, daß Dareios beispielsweise bei Issos seine
Familienmitglieder, unter anderem seine hochschwangere Frau, mit sich führte, die dann alle in Alexanders Hände fielen.
Das Mosaik gibt uns auf diese Frage eine Antwort, die nicht nur eine künstlerische Meisterleistung darstellt, sondern auch
historische Einsicht in die den Alexanderschlachten zugrundeliegenden Abläufe beweist.
Die Mitte des Bildes wird kompositorisch und moralisch regiert" (Curtius) von Dareios (1). Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickt er nach links, wo ein Angehöriger seiner Leibgarde von Alexanders Speer durchbohrt wird (2). Die Rechte des Sterbenden greift noch um die tödliche Waffe, als wolle er sie aus dem Körper herausziehen, aber der Körper bricht bereits zusammen über seinem am Boden verblutenden Rappen. Die teilnehmend, aber vergeblich ausgestreckte Rechte und der fassungslose Blick des Dareios gelten dem tödlich Getroffenen, der sich zwischen ihn und den heranstürmenden Alexander geworfen hat. Blick und Geste des Dareios gelten deshalb aber ebenfalls dem nahenden Alexander (3). Der Perserkönig kämpft nicht selbst und ist auch darum bereits passives Opfer des allgemeinen Entsetzens.
Dagegen bestimmt der Makedonenkönig aktiv das Schlachtgeschehen. Er jagt von seinem Bukephalos (4) aus dem Feind die Lanze
durch den Leib, blickt aber gar nicht auf sein Opfer. Sein weitgeöffnetes Auge zielt auf Dareios; auch die Gorgo auf seinem
Brustpanzer wendet den Blick seitwärts auf den entsetzten Feind, als wolle sie die suggestive Kraft dieses Auges noch
verstärken.
Das Porträt Alexanders entspricht dem sogenannten Lysippschen Typ, zu dem zum Beispiel auch der Pergamonkopf gehört.
Alexander wird hier nicht in der sonst häufigen Form idealisiert: mit langen Locken und vollen weichen Gesichtszügen als
Inkarnation des Zeus, des Sonnengottes Helios oder Apollons [...]. Sein Kopf erscheint vielmehr mager, mit straff
modellierten Wangen, von angedeuteten oder tief eingegrabenen Falten gezeichnet und mit kurzem, nur knapp das Ohr
bedeckendem Haar. Beide Typen, der realistische und der idealisierende, zeigen freilich die für Alexander charakteristische
Teilung der Stirnlocken - hier als kurze, widerspenstige Strähnen, in der vergöttlichenden Variante als strahlenförrnig
aufsteigende Lockenpaare. Ihr spätes, aber unverkennbares Echo findet diese Haartracht dann in der bewußt stilisierten,
charakteristischen Stirnlocke des Augustus.
Um Alexander herum sind, auch wegen der Beschädigung des Mosaiks, nur wenige Makedonen an ihren haubenartigen Helmen erkennbar. Der überwiegende Teil des Bildes, etwa drei Viertel der Gesamtfläche, gehört den Persern. Die Perser tragen den innerasiatischen Schuppen- oder Plättchenpanzer. Diese bedecken den ganzen Körper und bestehen aus rechteckig geformten Eisen- oder Bronze-Stäbchen, die nach oben und unten bzw. seitwärts durch Schnüre miteinander verbunden sind. In kühner Verkürzung gemalt, sucht vor Dareios ein Perser ein scheuendes Pferd zu bändigen (5), das vielleicht dem neben ihm zu Boden Gestürzten gehörte (6). Das Gesicht des Sterbenden, den gerade der Wagen des Dareios überrollt, spiegelt sich in seinem Schild und blickt als einziges den Betrachter an.
Die von links nach rechts schräg abfallende Kompositionslinie der drei Perser, des von Alexander Durchbohrten (2), des Pferdebändigers (5) und des Sterbenden (6) folgt der inneren und äußeren Bewegung des Bildes. Dieselbe Linie wiederholt sich rechts von der Geißel des Wagenlenkers (7) über die Zügel zu den Beinen der Pferde, die in wilder Bewegung den Königswagen nach rechts zur Flucht herumreißen. Das Bild zeigt in seinem Mittel? und Drehpunkt, den die Gruppe des Pferdebändigers (5), des Dareios (1) und des Wagenlenkers (7) bildet und der durch das Rund des Wagenrades unterstrichen wird, den entscheidenden Wendepunkt der Schlacht.
Die Meisterleistung des Künstlers, der für seine Darstellung diesen Moment des „Umschlagens“ der Schlacht gewählt hat, wird zum Beispiel im Vergleich mit der „Alexanderschlacht“ Altdorfers deutlich: dort wird der bereits fliehende Dareios von Alexander einfach verfolgt, eine vergleichsweise einfache und spannungslose Thematik. Hier dagegen spiegeln die vielen, schräg nach links oben zielenden Lanzen und Dareios¹ Körperhaltung noch die persische Angriffslinie. Diese Angriffslinie wird im Oberkörper des Durchbohrten (2) durch die von Alexander ausgehende dynamische Gegenlinie buchstäblich durchbohrt. Der gewinkelte linke Arm dieses Persers und sein Bein nehmen die gegenläufige Bewegung bereits auf, die dann über die Lanze Alexanders direkt in den Mittelpunkt des Bildes stößt und im geißelschwingenden Arm des Wagenlenkers (7) mündet, der den Anstoß zur Flucht gibt. Die drei Lanzen am rechten Bildrand deuten diese Fluchtbewegung an, die wenig später auch die anderen, noch gegen Alexander ge-richteten Lanzen herumreißen wird. Die gegenläufige Bewegung dieser feindlichen Linien wiederholt sich übrigens beziehungsreich im Stamm und in den Ästen des kahlen Baumes.
Die Antwort, die das Bild auf die Frage nach Alexanders Überlegenheit gibt, könnte etwa folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die unbeirrte, zielstrebige Kühnheit Alexanders, eine Haltung, die sich hier in seinem weitgeöffneten Auge und der durch bohrenden Lanze spiegelt, wirkt so entsetzlich und überwältigend auf seine Gegner, daß diese panikartig die Flucht ergreifen. Dennoch spricht die Darstellung, beispielsweise in der Geste des Dareios und den drei vor ihm kämpfenden Persern, diesem Gegner Würde und menschliche Größe zu. Ähnlich wie in den "Persern" des Aischylos gelten Anteilnahme und Achtung gerade auch dem Unterlegenen. Die Antwort des Bildes entspricht unserer historischen Kenntnis: sowohl bei Issos als auch bei Gaugamela entschied Alexander die Schlacht durch ein ungewöhnliches taktisches Manöver. Er stürmte jeweils im Kreis seiner berittenen Hetairoi, einer Art Elitetruppe, in die feindlichen Linien, brach durch diesen Überraschungsangriff den Widerstand und erschien somit völlig unvermutet vor Dareios, der daraufhin kopflos die Flucht ergriff. Die Gefangenen behandelte Ale-xander mit einer für die Perser völlig ungewohnten Achtung und Schonung. Das Bild gibt also nicht eine bestimmte Schlacht Alexanders wieder, sondern gestaltet gewissermaßen die Typologie seines Sieges.